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Schüleraustausch USA

YFU-Blog

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Austauschziel USA: Zwischen Skepsis, Faszination und Tradition

19. Februar 2024

Es gibt wenige Länder, die so sehr polarisieren wie die USA. Für YFU spielen die Vereinigten Staaten als Land, mit dem die Austauschprogramme des Vereins ihren Anfang nahmen, eine ganz besondere Rolle. Auch heute noch sind die USA das beliebteste Austauschziel für Schüler*innen in Deutschland – nicht nur bei YFU. Gleichzeitig scheint die Kritik gerade unter jungen Menschen zu wachsen. Wie das zusammenpasst und was wir in Deutschland vielleicht heute noch von den USA in Sachen Demokratie lernen können, darüber haben wir mit dem YFU-Kuratoriumsmitglied Martin Klingst gesprochen, der nicht nur selbst als YFU-Austauschschüler ein Jahr in den USA verbracht hat, sondern sich darüber hinaus schon seit langem mit dem besonderen Blick der Deutschen auf die USA beschäftigt.

 

Lieber Herr Klingst, was ist das Besondere am Blick der Deutschen auf die USA?

Faszination bei den einen, schroffe Ablehnung bei den anderen; es gibt nur wenige Länder – und schon gar keine westlichen – an denen sich die deutschen Geister derart scheiden wie an den Vereinigten Staaten von Amerika. Geht es um die USA, hat fast jeder und jede eine feste Meinung, selbst wenn er oder sie noch nie dort gewesen ist. Das hat mit der Weltmachtrolle Amerikas zu tun, aber ebenso mit dem kulturellen, ökonomischen und sozialen Einfluss. Es gibt so gut wie keinen, der nicht in irgendeiner Weise davon berührt ist. Die Vereinigten Staaten sind seit Anbeginn eine riesengroße Projektionsfläche für Träume, überhöhte Erwartungen – und Enttäuschungen. Das Versprechen des „pursuit of happiness“ hat über die Jahrhunderte Abermillionen Menschen aus Deutschland angezogen – aber zugleich auch viele abgestoßen, weil die Verheißung auf eine bessere, gerechtere Welt, auf Freiheit und Wohlstand nicht erfüllt wurde.

 

Für deutsche Schüler*innen sind die USA das beliebteste Austauschziel. Gleichzeitig scheint die Kritik an den USA gerade auch unter jungen Menschen zu wachsen.

Das ist kein Gegensatz. Die USA sind seit jeher ein Land der Widersprüche, was ja – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch die Faszination dieses Landes ausmacht. Sprühender Erfindergeist und unnachahmliche Spitzentechnologie auf der einen, krasse Rückständigkeit auf der anderen Seite. Enormer Reichtum und eklatante Armut. Krieg führende Nation und Friedensvermittler. Mit der Präsidentschaft von Donald Trump und der Möglichkeit seiner Wiederwahl im November 2024 hat sich der Blick auf die Vereinigten Staaten zwangsläufig verdüstert. Werden Amerikas Institutionen den Anfechtungen standhalten? Oder werden die politischen Gegensätze die Nation immer weiter auseinandertreiben? Niemand kann das voraussagen. Zugleich aber trifft man vielerorts auf eine äußerst lebendige Zivilgesellschaft, eine beneidenswert kreative Gesellschaft. Ich kann darum nur jeden und jede ermutigen, dies selbst zu erfahren, mit eigenen Augen zu sehen.

 

Sie haben 1971 mit YFU ein Austauschjahr in den Vereinigten Staaten verbracht. Welche Reaktionen haben Sie damals aus Ihrem Umfeld erhalten?

Damals war es nicht so viel anders als heute. Ich kam in die USA drei Jahre nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King und des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy, die Vereinigten Staaten führten einen grausamen Krieg in Vietnam, die Stimmung war äußerst aufgeraut, Amerika tief gespalten. Viele meiner deutschen Mitschüler*innen, auch einige Verwandte, konnten nicht verstehen, warum ich ausgerechnet dorthin wollte.

 

Wie war dann Ihre Erfahrung als Austauschschüler?

Ich lebte in einer sehr konservativen Familie, politisch hatten wir so gut wie nichts gemein, aber menschlich verstanden wir uns gut; mein Gastvater liebte es, mit mir zu diskutieren, hatte extra wegen mir mehrere Zeitungen abonniert. Das Austauschjahr hat mich sehr geprägt, ich würde rückblickend sagen, es war in meinem Erwachsenwerden die wichtigste Zeit. Bis heute habe ich Kontakt zu meinen zwei amerikanischen Gastschwestern und zu einigen Freunden von damals.

 

Für die Gründung von YFU spielen die USA eine herausragende Rolle. Demokratieerziehung war und ist auch deshalb ein wesentlicher Bestandteil der YFU-Bildungsziele. Spätestens seit Trump nehmen viele Deutsche die US-amerikanische Demokratie jedoch als krisengebeutelt wahr. Können wir heute in Sachen Demokratie trotzdem noch etwas von den USA lernen?

Auf jeden Fall lässt sich lernen, wie verletzlich eine Demokratie ist, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten können, wie dünn letztlich der Firnis ist. Aber ebenso, wie wichtig gefestigte Institutionen sind, zum Beispiel eine standhafte Justiz, die ohne Ansehen der Person – wie im Falle von Donald Trump – Unrecht verfolgt. Am Beispiel der USA lässt sich auch lernen, wie kompliziert es ist, die Gleichgewichte einer Demokratie in der Waage zu halten. Wegen des eigentümlichen amerikanischen Wahlsystems wurde in den vergangenen 23 Jahren zweimal ein Republikaner zum Präsidenten gewählt, obwohl er nicht die Mehrheit der Stimmen errungen hatte: Im Januar 2001 gelangte so George W. Bush ins Weiße Haus – und im Januar 2017 Trump. Eine Minderheit im Senat kann dank der sogenannten Filibuster-Regel verhindern, dass Gesetze beschlossen oder überhaupt erst einmal erörtert werden. Und eine kleine Minderheit hat wochenlang die Wahl eines neuen Sprechers des Repräsentantenhauses blockiert, immerhin das drittwichtigste Amt nach dem Präsidenten und seiner Stellvertreterin. Im positiven Sinne lässt sich aber auch studieren, wie vor allem auf lokaler Ebene Bürgerbeteiligung organisiert wird. Auch das große ehrenamtliche Engagement so vieler US-Amerikaner*innen ist bewundernswert. In den Tausenden von Dörfern, Städten und Gemeinden gilt noch die Devise des ehemaligen Präsidenten John F. Kennedy, dass man, bevor man den Staat um Hilfe ruft, erst einmal fragt, was man selbst für die Gemeinschaft tun kann.

 

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen: Bleiben die USA Spitzenreiter für Schüler*innen in Deutschland?

Einstweilen ja. Doch ob das dauerhaft so bleiben wird, ist ungewiss. Die USA sind nach wie vor eine Supermacht, aber die globalen Gewichte verschieben sich, andere Mächte steigen auf, andere Regionen rücken stärker ins Blickfeld und gewinnen an Attraktivität. Entscheidend wird auch die weitere Entwicklung der USA sein. Solange die Vereinigten Staaten westliche Führungsmacht bleiben, solange sie sich den gemeinsamen Werten und Institutionen verpflichtet fühlen, divers, Vorreiter bei Innovationen, kurzum: das Labor der Welt sind, werden sie wie ein Magnet weiter viele Schüler*innen und Studierende anziehen.

 

Das Interview mit Martin Klingst wurde Ende letzten Jahres für das YFU magazin 2023 durchgeführt. 

 

 

Ehemaliger Austauschschüler und USA-Experte Martin Klingst

Martin Klingst war 1971/72 YFU-Austauschschüler in Colorado, USA. Er ist Jurist und Journalist und war nach Stationen beim NDR und dem Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt über 25 Jahre bei der ZEIT, u.a. als Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent im Berliner Hauptstadtbüro. Von 2020 bis 2021 leitete er die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden des Bundespräsidenten. Martin Klingst ist Senior Expert bei der Atlantik-Brücke e.V. und war 2023 John-F.-Kennedy-Memorial-Fellow am Center for European Studies der Universität Harvard. Er ist seit 2014 Mitglied des YFU-Kuratoriums.

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