„Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich das Haus meiner neuseeländischen Gastfamilie das erste Mal betrat: an den Flur, den Geruch, die Aufregung und natürlich an den großartigen Ausblick über die Bucht von Wellington. Damals stellte sich schnell eine Vertrautheit ein und mir kam der Gedanke, dass ich all dies später bei meiner Abreise sehr vermissen würde. Was sich – natürlich! – bewahrheitete.
Im Frühjahr 2024, gut 20 Jahre später, hat sich einiges verändert: Ich betrete das Haus nicht allein, sondern mit meinem Mann und unseren zwei Kindern. Meine Gastbrüder sind längst ausgezogen und haben selbst Familien gegründet. Die Eingangstür zum Haus liegt nicht mehr im mittleren, sondern im oberen Geschoss, denn ein neuer Weg führt von der oberhalb des Hauses gelegenen Straße direkt dorthin. Aber die Vertrautheit ist sofort wieder da, und mit ihr viele Erinnerungen an die Zeit bei meiner Gastfamilie, die mich an allem teilhaben ließ und mir das Leben der ‚Kiwis‘ nahebrachte. Das Zusammenleben mit Lyn, Murray und meinen Gastbrüdern war schnell Alltag geworden, ebenso wie der Blick aus dem Fenster – mal auf das aufgepeitschte Meer (die Hauptstadt wird hier nicht ohne Grund „Windy Wellington“ genannt), mal auf die Lichtershow bei einem Rugby-Spiel im Stadion. Ich erinnere mich an Familienfeiern, an Nähabende mit Lyn, an den Versuch, Pavlova (Kiwi-Baiser-Torte) zu backen und an Cricket-Training mit meinem Gastbruder auf der Terrasse (wir mussten den Ball oft im Garten suchen, sehr zum Leidwesen von Lyn). Meine Gastfamilie war sehr unternehmungslustig, und so besuchten wir z.B. eine Farm-Show mit einem Schafscher-Wettbewerb oder die berühmten Glühwürmchen-Höhlen in Waitomo, wir gingen auf Walbeobachtung in Kaikoura und zum Winetasting nach Martinbourough. Wir waren auf einer Hochzeit in den Südalpen (Südinsel Neuseeland) und am Strand von Paraparumu bei meinen Gastgroßeltern. Das Austauschjahr brachte mir in jeder Hinsicht mehr, als ich hätte erwarten können – mehr Erlebnisse, mehr Tiefen, mehr Höhen, mehr Fremdheit und mehr Vertrautheit zugleich.
Dass ich mit YFU in den Austausch gehen würde, lag nahe. Schon mein Vater war YFU-Austauschschüler (siehe Blogeintrag ‚A blast from the past‘) und als Gastfamilie hatten wir bereits zahlreiche YFU-Schülerinnen aufgenommen. Mit meinem eigenen Auslandsjahr zog sich dann das Thema ‚Austausch‘ immer weiter wie ein roter Faden durch mein Leben. Nach dem Abitur ging ich für ein Jahr als Freiwillige nach Mexiko, später studierte ich ein Semester in Paris, machte ein Praktikum in Bulgarien und engagierte mich in einer Studierendeninitiative, die internationale Praktika vermittelt. Sogar beruflich hat es mich seit mittlerweile über zehn Jahren in die YFU-Geschäftsstelle in der Oberaltenallee verschlagen.
Dass der Kontakt zu Lyn und Murray über die ganze Zeit so innig blieb, habe ich vor allem ihrer Reisefreude zu verdanken. Auf ihren Fahrten nach Europa besuchten sie mich oft: Erst bei meinen Eltern im Hamburger Norden, dann während des Studiums in Lüneburg, später in meiner ersten eigenen Wohnung in Barmbek und zuletzt zur Hochzeitsfeier in Altona. Das aufregendste Wiedersehen jedoch erlebten wir in Mexiko während meines Freiwilligendienstes 2006. Sie besuchten mich auf einer Lateinamerika-Reise, ich zeigte ihnen die Städte Guadalajara und Tequila und nahm sie mit zum WM-Spiel-Gucken in einer mexikanischen Bar.
Im Frühjahr 2022 feierten Lyn und Murray ihre goldene Hochzeit; mein Mann und ich waren gerade in Elternzeit – perfektes Timing für ein Wiedersehen! Dachten wir. Die anhaltende Corona-Pandemie und das Einreiseverbot nach Neuseeland machten uns einen Strich durch die Rechnung. Zwei Jahre und ein Kind später hatten wir mehr Glück: Mein Mann und ich erfüllten uns den Traum einer Familien-Camper-Reise quer über die Nordinsel. Der Besuch bei Lyn und Murray in Wellington machte uns ganz besondere Freude. Nicht nur – aber auch ein bisschen – wegen ein paar Nächten in richtigen, bequemen Betten mit einem grandiosen Ausblick, sobald wir morgens den Vorhang aufzogen. Wir besuchten alte und neue Orte in Wellington, erzählten Anekdoten aus meinem Austauschjahr, und zwei meiner Gastbrüder kamen mit ihren Familien zu Besuch. Es war bunt und laut und viel zu kurz.
Vielleicht schreiben unsere Kinder in zwölf, fünfzehn Jahren die ‚YFU-Familien-Geschichte‘ weiter und knüpfen ihre eignen Verbindungen über Ländergrenzen hinweg. Das würde mich sehr freuen."
Ein Beitrag von Veronica Kuls, YFU-Austauschjahr in Neuseeland 2002/03