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Bildungspolitisches Arbeitstreffen zum Thema Jugend- und Schüleraustausch

YFU-Blog

Aktuelles aus Verein und Austauschwelt

Meilenstein und Motivation - „FAIR SHARE“ von Frauen in Führungspositionen bei YFU

27. Oktober 2023

„Am 28. März wurde der FAIR SHARE Monitor 2023 veröffentlicht. Im zugehörigen Ranking steht Ihre Organisation mit einem Indexwert von 8.7 auf Platz 21 von insgesamt 187. Sie liegen damit im erwünschten FAIR SHARE-Indexbereich von 15,0 oder darunter, was bedeutet, dass Ihre Organisation einen unserer Definition nach angemessenen Anteil an Frauen in Führungspositionen aufweist. Herzlichen Glückwunsch!“

 

Diese Nachricht hat bei der Schüleraustauschorganisation Deutsches Youth For Understanding Komitee e.V. (YFU) in Hamburg große Freude ausgelöst. Für die Non-Profit-Organisation bedeutet das Erreichen dieser „Zielmarke“ einen Meilenstein in einem bewusst eingegangenen Prozess der Organisationsentwicklung, bei dem Ungerechtigkeit und eine ungleiche Verteilung von Privilegien verringert und nach Möglichkeit aufgehoben werden soll. Gleichberechtige Führungschancen sind dabei zentral; sie sollen nach innen und außen Wirkung entfalten und zu einer Verbesserung der Organisationskultur beitragen.

 

Auf dem Weg zu einem „FAIR SHARE“ von Frauen in Führungspositionen

 

Das Deutsche Youth For Understanding Komitee (YFU) ist eine der größten und ältesten gemeinnützigen Jugendaustauschorganisationen in Deutschland, die sich durch langfristige Austauschprogramme für globale und interkulturelle Bildung, für Demokratieerziehung und für die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung einsetzt. Der Verein bietet jungen Menschen die Möglichkeit, ein anderes Land, eine andere Lebensweise als Mitglied einer Gastfamilie zu erleben, eigene Vorurteile zu hinterfragen und neue Perspektiven zu gewinnen. Seit Juni 2023 hat der Verein eine neue Geschäftsführung: Mit Mareike von Raepke und Jantje Theege als ihre Stellvertreterin leiten zum ersten Mal in der Geschichte des Vereins zwei Frauen die Hamburger Geschäftsstelle. Bis dato waren die Geschäftsführer, die es seit Mitte der 1980er Jahre gegeben hat, ausnahmslos Männer. Diese Entwicklung ist wichtig, weil sie ein lange bestehendes Missverhältnis auflöst. Seit Jahrzehnten ist die Mehrheit der Teilnehmer*innen an internationalen Austauschprogrammen weiblich. Schülerinnen sind zu mindestens 60% in der Überzahl, in manchen Jahren bilden sie mehr als eine Zweidrittel-Mehrheit. Auch der größte Teil der mehr als 4.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen, die YFU in allen Teilen Deutschlands unterstützen, und der rund 4.600 Mitglieder des Vereins, ist weiblich. Und unter den derzeit 70 Angestellten der Bundesgeschäftsstelle des Vereins stellen Frauen mit einem Anteil von knapp 80% die Mehrheit.

 

Dass die Führung des Vereins bis vor kurzem ausschließlich in den Händen von Männern lag, spiegelt ein Phänomen wider, das viele NGOs und Stiftungen in Deutschland betrifft, ebenso wie Träger der Kinder- und Jugendarbeit. Denn obwohl sich viele Organisationen für mehr Gleichberechtigung einsetzen, scheitern sie oft daran, diese auch innerhalb der eigenen Strukturen umzusetzen. Während die Mehrheit der Angestellten in Institutionen des dritten Sektors (1) meistens Frauen sind, sind diese gleichzeitig aber nur wenig unter den Führungskräften vertreten. Dieses Missverhältnis aufzuzeigen und dem entgegenzuwirken, hat sich der gemeinnützige Verein FAIR SHARE of Women Leaders e.V. auf die Fahnen geschrieben. Seit 2019 setzt sich die Organisation weltweit für einen fairen Anteil von Frauen in Führungspositionen ein und ruft alle zivilgesellschaftlichen Organisationen auf, bis 2030 einen fairen Frauenanteil in Führungsgremien zu erreichen. Zu den ersten 20 unterstützenden Vereinen zählt seit Anfang 2021 auch das Deutsche Youth For Understanding Komitee e.V. Zum damaligen Zeitpunkt waren bereits einige Führungspositionen mit Frauen besetzt: vier der fünf Vorstandsmitglieder waren weiblich, seit 2015 war mit Mareike von Raepke zudem bereits eine Frau als stellvertretende Geschäftsführerin benannt, und vier der sieben Leiter*innen der Abteilungsteams in der Hamburger Bundesgeschäftsstelle desVereins waren (und sind) Frauen. Gemäß dem Benachteiligungsquotienten, der auf Basis der Kriterien der Initiative ermittelt wurde, war der Anteil der weiblichen Führungskräfte bei YFU aber noch nicht fair. An diesem Ziel wurde intensiv weitergearbeitet und mit der nun rein weiblichen Führungsspitze konnte YFU beim FAIR SHARE Monitor 2023 tatsächlich in einem Bereich abschneiden, der von der Initiative als fair bezeichnet wird.

 

Dieses Ergebnis ist aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen geht es schlichtweg um Fragen der Repräsentanz und damit einhergehenden Fragen von Machtverteilung und, ja, Fairness. Zum anderen geht es darum, die Diskrepanz zwischen den propagierten Organisationswerten und internen Strukturen aufzulösen. Das Engagement für soziale Gerechtigkeit, Förderung von Toleranz und Stärkung marginalisierter Gruppen und eine fehlende Repräsentation genau dieser Gruppen erscheint nicht stimmig. „Wenn der zivilgesellschaftliche Sektor die führende Stimme in Bezug auf Geschlechterfragen und soziale Gerechtigkeit verkörpern will und wirklich solidarisch mit sozialen, antirassistischen und antipatriarchalen Bewegungen sein will, müssen die Organisationen mit gutem Beispiel vorangehen: Sie sollten gleiche Karrierechancen sowie einen fairen Anteil diverser Frauen in Führungspositionen und Leitungsgremien sicherstellen und ein kollektives Bekenntnis zu einer feministischen Führungskultur als gemeinsamen Standard tatsächlich organisatorisch leben.“ (vgl. Fairshare 2020)

 

Austausch für Alle: Die eigene Organisation muss sich verändern

 

Der Aspekt der Harmonisierung von Werten und eigenen Strukturen ist auch für YFU zentral. In den Zielen, die sich der Verein 2020 für die nächsten fünf Jahre gesetzt hat, definiert sich YFU als Teil der Zivilgesellschaft. Mit der Durchführung von Austauschprogrammen soll nicht nur teilnehmenden Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, sich individuell weiterzuentwickeln – es werden auch gesellschaftliche und politische Ziele verfolgt. Die Begriffe Bildungsgerechtigkeit und Vielfalt nehmen dabei einen großen Raum ein, was durch die Formel „Austausch für Alle“ ausgedrückt wird.

 

Bei YFU besteht das Verständnis, dass es untereinander verknüpfte Diskriminierungskategorien gibt, die zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen. Die faire Repräsentation von Frauen in Führung ist nur ein Puzzleteil auf dem Weg hin zu einer diskriminierungsfreien Organisation, deren Zusammensetzung und Wirken so vielfältig ist wie die Gesellschaft, in der sie agiert.

 

Gerechter Zugang zu interkulturellem Lernen

 

So gilt es, die Bildungsprogramme des Vereins möglichst vielen jungen Menschen zugänglich zu machen und sicherzustellen, dass sie nicht zu einem Großteil den privilegierten Milieus unserer Gesellschaft vorbehalten bleiben. Internationale Austauschprogramme, vor allem längere Aufenthalte im Ausland, sind nicht nur ein faszinierendes Abenteuer; sie dienen auch dem Erwerb von Globaler Kompetenz. Sie werden jedoch von den über ein größeres ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verfügenden Klassen auch benutzt, um den eigenen Status und Privilegien zu bewahren. Die Zielstellung „Austausch für Alle“ verstehen wir bei YFU deshalb als Auftrag, Jugendlichen aus allen Milieus, Schichten und Klassen Zugang zum Erwerb Globaler Kompetenz zu verschaffen – einen „Fair Share of Global Education“. Die Vergabe von Stipendien, passende Formate und eine gute Ansprache und Begleitung sind unter anderem der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit (vgl. Zugangsstudie).

 

Mehr Vielfalt – unter Mitarbeiter*innen und Teilnehmer*innen

 

Weiterhin zentral für eine Diversifizierung der Organisation sind Vorbilder; das bedeutet, die  Zusammensetzung der in Bildungseinrichtungen tätigen Menschen muss sich verändern. Das Motto „Fair Share“ ist auch hier zutreffend: Die Gruppe der Mitarbeiter*innen von Organisationen im dritten Sektor muss so divers sein wie unsere Gesellschaft. Bisher ist dies bei YFU noch nicht der Fall – die Angehörigen der global orientierten, weißen, meistens akademisch ausgebildeten „Neuen Mittelklasse“ (Reckwitz 2017) bilden den weitaus größten Teil der Mitarbeiter*innen des Vereins. Sie prägen den Charakter und die Kommunikation des Vereins. Es gibt deshalb für Kinder, deren Biografie nicht den normativen Vorstellungen entspricht, bisher kaum Orientierungspunkte. Auch die Peer-to-Peer-Vernetzung, die die Bildungsarbeit des Vereins so erfolgreich macht, funktioniert hier häufig nicht. Die soziale Zusammensetzung des Vereins, seine Kultur ändert sich nicht über Nacht. Auch bei der Frage von fairer Repräsentation in Sachen Gender stellt das gute Ranking bei FAIR SHARE einen wichtigen, aber allenfalls ersten Schritt dar. Es ist das erklärte Ziel des Vereins, auch über die binäre Geschlechterteilung hinaus Diversität zu fördern und sichtbar zu machen – und so die Vielfalt der Gesellschaft auch innerhalb der YFU-Teilnehmendenschaft widerzuspiegeln. Um unter anderem auch hier konkrete Ideen zu entwickeln und umzusetzen, wurde im Jahr 2022 die „Arbeitsgruppe Vielfalt“ ins Leben gerufen. Bestehend aus ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter*innen hat es sich die AG zum Ziel gesetzt, den Prozess von YFU hin zu einer diversitätsorientieren Organisation zu steuern und zu begleiten. Unter anderem wurde dafür auch ein externes Coaching in Anspruch genommen, um mit dem Blick ggf. hindernde und diskriminierende Strukturen besser erkennen und abbauen zu können.

 

In vielen Bereichen steht YFU noch am Anfang. Bei einem genauen Blick auf die Abläufe und Strukturen der Programmarbeit gibt es zum Beispiel noch (zu) viele unnötige Hürden für queere Jugendliche. Angefangen von der Seminarunterbringung, über die Ansprache in der Programmorganisation bis hin zu einer adäquaten Vorbereitung und Begleitung der Austauscherfahrung. Daran arbeiten wir bei YFU und haben dieses Jahr einen ersten wichtigen Schritt umgesetzt: Ab sofort erlauben die internen technischen Strukturen der Programmabwicklung die Angabe eines dritten Geschlechts ebenso wie eine individuelle Angabe von Pronomen. Was auf den ersten Blick banal erscheint, ist nicht nur ein massiver administrativer Aufwand, sondern für uns auch ein wichtiger Schritt hin zu mehr Repräsentanz, Sichtbarkeit und Anerkennung. Denn wir sind überzeugt, dass Sprache das Bewusstsein formt – daher nutzen wir beispielsweise in unserer Kommunikation den Gender-Stern, auch wenn wir dadurch einige Mitglieder und Ehrenamtliche verloren haben, die diese Maßnahme nicht mittragen konnten oder wollten. Dass wir queere Jugendliche nun auch explizit in unseren administrativen Abläufen sichtbar machen und benennen, war für uns ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung. Ein Schritt, dem viele weitere folgen werden und folgen müssen. Konzepte müssen begutachtet und angepasst werden, Schulungen von Ehrenamtlichen ergänzt und Mitarbeiter*innen sensibilisiert werden. Auf internationaler Ebene gibt es im YFU-Netzwerk hier schon erste Ansätze, die vor allem von engagierten Ehrenamtlichen vorangetrieben werden. Ein Beispiel ist die ehrenamtlich getragene Queer-Initiative Youth For Acceptance (YFA), die sich seit 2017 innerhalb der europäischen YFU-Gemeinschaft für LGBTQI+-Themen stark macht. Ideen, wie genau diskriminierungsfreie Orte für LGBTQI+-Menschen in YFU-Programmen aussehen können, tragen sie unter anderem in Workshops für Engagierte und Austauschschüler*innen zusammen. Die ersten dieser Workshops haben im Sommer 2022 auf dem Youth Empowerment Seminar (YES) stattgefunden, das vom internationalen YFU-Büro (Global Office) organisiert wird. Hier verbinden sich jedes Jahr rund 500 Austauschschüler*innen und Engagierte und tauschen sich über ihre Austauscherfahrungen und aktuelle Themen aus. Nachdem YFA mit ihren Workshops letztes Jahr einen großen Ansturm erlebt hatte, war die Initiative auch dieses Jahr mit zwei Workshops, einem Stand für Informationen und Gespräche sowie einer Queer-Movie-Night auf dem YES vertreten. Aktuell finden diese Workshops nur auf europäischer Ebene statt, doch es gibt Pläne und Ideen, um in Zukunft die Zusammenarbeit mit den YFU-Organisationen in den einzelnen Ländern zu verstärken.

 

Auf dem Weg hin zu einer diversitätsorientieren Organisation gibt es für YFU also noch viel zu tun und wir haben längst nicht alle Antworten. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass jeder noch so kleine Anfang besser ist, als gar nichts zu tun. Wir freuen uns daher auf die nächsten Jahre und sind fest entschlossen, nach einem ersten Erfolg bei der Frage weiblicher Repräsentanz in der Organisationsführung, in Zukunft nun auch die bisher im Schüler*innenaustausch noch unterrepräsentierten Gruppen stärker in unsere Programme und in die Vereinsarbeit einzubinden. Vernetzung und Erfahrungsaustausch mit Mitstreiter* innen, die sich auch auf eine Reise hin zu mehr Vielfalt und gerechten Strukturen begeben, ist herzlich Willkommen. Vor allem durch Austausch und voneinander lernen kann Entwicklung stattfinden – ein Gedanke der bei YFU seit der Gründung des Vereins als Teil der eigenen Mission verankert ist.

 

Dieser Artikel ist bereits erschienen in „FORUM für Kinder- und Jugendarbeit“, Ausgabe 3/2023: Patriarchat verlernen. Verantwortung für Veränderung. Hrsg.: Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V.
www.kinder-undjugendarbeit.de

 

Foto: kommaKLAR | Winnie Mahrin.

 

Anmerkungen

1) Dritter Sektor: Der Begriff „Dritter Sektor“ oder auch Non-Profit Bereich umfasst Vereine, Verbände, Stiftungen und Interessengemeinschaften, die gemeinnützig agieren. Vgl. Nonprofit-Bereich – Wikipedia/ Dritter Sektor | bpb.de

Literatur

FairShare (2020): Feminist Leaders for Feminist Goals. Ansätze für eine feministische Führungskultur. S.14. URL: https://fairsharewl.org/wp-content/uploads/2020/10/FairShare_Action_Paper_de.pdf [13.7.23]

Forschung und Praxis im Dialog/transfer e.V. Warum nicht? Studie zum internationalen Jugendaustausch. Zugänge und Barrieren. URL: www.zugangsstudie.de [13.7.23]

Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag.

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